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»Totengräberin des Glaubens«

Gerd Lüdemann über falsche Kirchendogmen und echte Jesusworte

Neues Deutschland, 24.12.2010

 

 

ND: Herr Professor Lüdemann, seit Mitte der 90er Jahre gelten Sie als veritabler Ketzer. Sie haben in Ihren Büchern die Auferstehung Jesu als »Humbug« und »frommen Wunsch« bezeichnet. Am Heiligen Abend feiern Millionen Menschen die Geburt Jesu. Ebenfalls ein zweifelhaftes Ereignis?

Prof. Lüdemann: Freunde haben mir zwar gesagt, jetzt wirst du auch bald erklären, dass Jesus nie gelebt habe. Aber an seiner historischen Existenz halte ich fest. Wobei es heute weitgehend Konsens ist, dass das Datum des Weihnachtsfestes aus anderen Religionen übernommen wurde und die Weihnachtsgeschichte des Lukas eine fromme Legende ist, die so gut wie nichts mit den tatsächlichen historischen, zeitlichen und lokalen Umständen von Jesu Geburt gemein hat.

 

Warum diese bis heute andauernde Aufregung in der als liberal geltenden evangelischen Kirche über Ihre Absage an die Auferstehung? Viele protestantische Theologen – so vor Jahrzehnten der prominente Rudolf Bultmann – haben bereits vor Ihnen Zweifel daran öffentlich gemacht.

In der Tat. Allerdings haben Bultmann und andere für sich einen Rettungsweg gefunden, auf dem sie trotzdem Christen bleiben konnten. Sie behaupteten, Jesus sei zwar nicht leiblich auferstanden, aber geistig-geistlich: in die Verkündigung hinein. Ich habe dem widersprochen und erklärt: Wenn er nicht auferstanden ist, wenn sein Leichnam verrottet ist, dann muss man klare Konsequenzen ziehen. Dann können wir keine Christen mehr sein. Das ist der entscheidende Unterschied.

 

Sie sind also kein Christ mehr?

Nein, ich bin kein Christ mehr. Ich glaube nicht an die Auferstehung Jesu, ich glaube nicht, dass der Wanderprediger aus Galiläa für meine Sünden gestorben ist. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern das Ergebnis der historischen Bibelforschung, die sich damit als Totengräberin des christlichen Glaubens erwiesen hat.

 

Aber Sie sind noch Mitglied der evangelischen Kirche ...

Ja, anderenfalls hätte ich Konsequenzen für die Ausübung meines Berufes zu befürchten.

 

Das klingt opportunistisch.

Das sehe ich anders. Mit meiner Arbeit leiste ich einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des frühen Christentums. Würde ich aus dem Staatsdienst entlassen, wären meine ohnehin seit zwölf Jahren eingeschränkten Mittel und Möglichkeiten noch geringer. Der Preis dafür ist mein Verbleib in der Kirche. Immerhin haben Pfarrer und andere, die bei mir lernten und ursprünglich in den Kirchendienst wollten, dann darauf verzichtet.

 

Paulus verkündet im ersten Korintherbrief: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« Sie greifen den Kern christlichen Glaubens an.

In meinem Buch »Paulus, der Gründer des Christentums« habe ich klar konstatiert: Was Paulus gepredigt hat, ist nicht wahr. Für mich bedeutet das Wort Wahrheit noch etwas, für die Kirche anscheinend nicht. Sie unterscheidet zwischen Wahrheit als historischer Tatsache und Wahrheit als Glaube. Zu solch intellektueller Unredlichkeit möchte ich keinen Beitrag leisten. Die Auferstehung Jesu ist widerlegt. Wissenschaftlich.

 

Vor über 50 Jahren schrieb der evangelische Theologe Hans Conzelmann: »Die Kirche lebt praktisch davon, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht publik sind.« Offenbar gilt das weiter.

Hans Conzelmann war mein Lehrer. Ich versehe diesen Satz noch mit drei Ausrufungszeichen.

 

Nach Erscheinen Ihres Buches »Der große Betrug« 1998 forderte die evangelische Kirche Ihre Entfernung von der Theologischen Fakultät und die Entlassung aus dem Staatsdienst. Die Universität gab dem nicht statt und Ihr konfessionsgebundener Lehrstuhl für »Neues Testament« wurde umgewandelt in den nichtkonfessionsgebundenen Lehrstuhl für »Geschichte und Literatur des frühen Christentums«.

Ein juristischer Trick. Die formale Umbenennung des Lehrstuhls, ausgekungelt im Wissenschaftsministerium in Hannover, diente dazu, mir die finanziellen Mittel und meine Prüfungsberechtigung zu nehmen und mich auf diese Weise kaltzustellen. In den folgenden Jahren bin ich dagegen bis vor das Bundesverfassungsgericht gegangen. Karlsruhe wies vor zwei Jahren meine Verfassungsbeschwerde zurück mit der Begründung, Theologie sei eine »bekenntnisgebundene Glaubenswissenschaft«.

 

Merkwürdige Wortschöpfung.

Womit allerdings die Kirche die Blamierte war. Denn jeder, der einen Funken Verstand hat, sieht sofort, dass hier eine Quadratur des Kreises versucht wird, die für einen Wissenschaftler nicht nachvollziehbar ist. Damit war die Idiotie dieses ganzen Verfahrens und der bekenntnisgebundenen theologischen Fakultäten offenbar gemacht. Und das betrachte ich als einen Sieg für mich. Gezeigt wurde die Borniertheit unseres juristischen Systems, das offiziell die Existenz einer Staatskirche bestreitet. Ich habe nichts gegen bekenntnisgebundene Theologie. Aber nicht auf Staatskosten.

 

Sie beschäftigen sich seit über 40 Jahren mit dem Neuen Testament. Wie gut kennen Sie Jesus?

Ich kenne Jesus als Menschen natürlich gar nicht. Ich kenne die Zeugnisse über ihn, sehe verschiedene Jesusbilder, die sich zum Teil widersprechen. Aber ich meine, dass er gegen das kirchliche Dogma, gegen das, was aus ihm gemacht wurde, heftig protestiert hätte. Er hätte gewiss nicht schlecht gestaunt, dass er Weltenherrscher, Gott sein soll. Für mich geht zugleich eine große Fremdheit von Jesus aus. Denn seine Wirkung auf Zeitgenossen bezog er vor allem aus magischen Ritualen, Exorzismen, Austreibung von Dämonen und Geistern. Jesus ist ungeachtet aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihm für mich ein Fremder geblieben, so wie die ganzen christlichen Gestalten aus dem 1. Jahrhundert für mich Fremde sind. Ich kann Jesus nur durch diese Fremdheit hindurch beschreiben. Ich kenne einzelne seiner Worte und ich würde mal sagen, fünf Prozent davon im Neuen Testament sind echt ...

 

Vor zehn Jahren waren Sie noch bei 15 Prozent.

Ja, eine Menge ist mir sozusagen unter den Händen zerronnen. Nehmen Sie das Johannes-Evangelium, da ist kein einziger Vers echt. Dieses vierte und jüngste Evangelium habe ich früher zuverlässiger eingeschätzt. Aber der unter »Johannes« firmierende Autor lässt Jesus nur über sich selbst reden. Jesus hat aber nicht über sich geredet, das ist eine Faustregel der Exegese, der Bibelauslegung. Das Johannes-Evangelium besteht aus Selbstgesprächen. Das liest sich sehr schön, aber wenn man sich vorstellt, dass Jesus gesagt haben soll: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Was für ein Unsinn.

 

Fünf Prozent echte Worte ... Kann sich denn damit überhaupt noch eine authentische Botschaft Jesu verbinden?

Durchaus. Eine Gerichtsbotschaft etwa, dass Gott kommen und richten wird und die Ermahnung der Menschen zur Umkehr. Übrigens eine Botschaft, die auch andere Juden vertreten haben. Dann einzelne seiner Gleichnisse, die für die damalige Zeit moralisch anstößig waren. Daneben stehen aber sehr, sehr viele unechte Aussagen. Was auch daraus resultiert, dass fast jedes Wort Jesu sofort interpretiert und damit meist verfälscht wurde.

 

Kern der Verkündigung Jesu ist die sogenannte Bergpredigt. Fidel Castro sagte einmal, Karl Marx hätte die Bergpredigt unterschreiben können, da sie eine uneingeschränkte Option für die Armen enthält. Ist diese Spruchsammlung auch nur eine fromme Legende?

Die Bergpredigt ist eine Komposition des Matthäus-Autors. Jesus hat sie nie gehalten. Einzelne Passagen darin gehen zweifellos auf Jesus zurück. So die über die Armen, die selig sind, da ihnen das Reich Gottes gehört, oder die Hungernden, die gesättigt werden sollen. Das sind Botschaften an die Besitzlosen, die Entrechteten, die Benachteiligten. In diesen Worten blickt Jesus nach unten, nicht nach oben. Allerdings finden sich diese Worte bei Matthäus schon nicht mehr in ihrer unverfälschten Form. Aus den Armen wurden die Armen »im Geist« und aus den Hungernden die »nach Gerechtigkeit« Hungernden. Die Aussagen, die bei Lukas noch in ihrer ursprünglichen Radikalität stehen, wurden so spiritualisiert, vergeistigt und damit ihres revolutionären Gehalts beraubt.

 

Wieso sehen Sie bei diesen Worten Jesus als echte Quelle?

»Selig sind die Armen« verweist auf ein baldiges Gottesgericht, das Jesus ja in der Tat erwartete. Als dieses Ereignis ausblieb, wurde von den Evangelienverfassern die Aussage Jesu mit dem Zusatz »im Geist« dahin gehend erweitert, dass sie nun für alle Christen galt und nicht mehr gebunden war an das kommende Gericht. Gleiches gilt für den Hunger, der aus einer existenziellen Not von christlichen Theologen spiritualisiert wurde zum Hunger nach Gerechtigkeit, zu einer allgemeinen Haltung also, die nichts mehr zu tun hat mit den konkreten Lebensumständen, auf die sich Jesus bezog. Auch die Forderung »Liebt eure Feinde« – das zum Extrem zugespitzte jüdische Gebot der Nächstenliebe – ist Jesus sicher zuzuschreiben. Dafür spricht vor allem die bereits im Urchristentum betriebene Aufweichung dieses Diktums.

 

Lässt sich nach fast zweitausend Jahren noch Neues im Neuen Testament entdecken?

Vor allem, wenn neue, von der frühen Kirche unzensierte Texte gefunden werden. Das 1945 im oberägyptischen Nag Hammadi in einer Abschrift aus dem 4. Jahrhundert entdeckte Thomas-Evangelium beschäftigt die Forschung bis heute. Neue Erkenntnisse verspricht sich die Religionswissenschaft auch aus den Gemeinsamkeiten zwischen Matthäus und Lukas. Diese Schreiber benutzten nicht nur das Werk des Markus, das früheste Evangelium, sondern zudem eine weitere Sammlung von Sprüchen Jesu, die von der Forschung als Q – Quelle – bezeichnet wird. Dieses Q-Evangelium, das nur als rekonstruierter Text existiert, wurde in Deutschland bislang kaum ernst genommen als eigenständiger theologischer Entwurf. In den USA, wo ich immer wieder sehr fruchtbar arbeite, geht man da weiter. Mittlerweile gibt es über ein Dutzend Bände Q-Kommentare. Daraus gewinnt man ein viel differenzierteres Bild Jesu. Zum Beispiel gibt es in Q keine Auferstehung und auch keine Aussagen über den Sühnetod Jesu. Anstöße, sich ganz neu einzufühlen in das frühe Christentum.

 

In Ihrem 1998 veröffentlichten »Brief an Jesus« schreiben Sie über einen Ihrer Träume: »Mit letzter Kraft stieß ich Gott selbst in den Pfuhl hinab und wurde endlich frei.« Das klingt nach Nietzsche, der den Tod, gar die Ermordung Gottes verkündete. Ist Gott für Sie erledigt? Sind Sie Atheist?

Dieser Gott, den ich in diesem übrigens echten Traum beschreibe, das war der moralische Gott, der Gehorsam verlangt und der mich daran hinderte, das zu tun, was ich eigentlich wirklich will, diese übermächtige Vaterfigur. Von diesem Gott habe ich mich endgültig verabschiedet. Ob ich Atheist bin? Angesichts des heutigen Verständnisses von Atheismus würde ich das nicht sagen. Denn ich halte die Fragen nach Gott, nach dem Göttlichen, nach dem letzten Grund für legitim und sinnvoll. Woher wir kommen, wohin wir gehen und warum wir das tun – das sind existenzielle, gleichwohl nicht beantwortbare Fragen. Aber solches Fragen darf sich nicht an einem Erkenntnisstand orientieren, der vor Jahrhunderten üblich war, sondern muss das heute verfügbare Wissen zur Grundlage haben.