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Jesus der Judenfeind und andere Lügen der Bibel

 

Vortrag in Erlangen, 23. März 2011 von Gerd Lüdemann, Göttingen

 

Christen besitzen „heilige Schriften“. Manche Texte darin sehen sie bis heute als wörtlich zu nehmende Berichte von vergangenem Geschehen an und wollen so, ohne die Ergebnisse der historischen Kritik zu berücksichtigen, die Glaubensgrundlage ihrer Gemeinschaften absichern.

 

Geschichte aber kann verfälscht und Geschichtsschreibung auf vielerlei Art manipuliert werden. Je weiter man in die Vergangenheit zurück geht, desto schwerer sind neutrale von parteiischer Berichterstattung zu unterscheiden. Es gibt Nachrichtenmangel, Irrtum, Versehen, Unwissenheit aber auch bewusste Täuschungen, d. h. Lügen.

 

Daher muss historische Forschung gleich zu Anfang echte und unechte Quellen voneinander scheiden. Der erste Schritt bei der geschichtlichen Arbeit, schrieb Johann Jacob Droysen, sei, sich zu vergewissern, „ob das Material, mit dem man es zu tun hat, auch das ist, wofür es gehalten wird oder gelten will.“ Quellenkritische Arbeite an den Glaubensurkunden der Kirche führte zu folgenden Ergebnissen:

 

Sieben der 27 Dokumente des Neuen Testaments sind echt, drei vielleicht echt, die übrigen bewegen sich zwischen Unechtheit und Anonymität.

 

Die historische Kritik hat die anonym vorliegenden Berichte der vier Evangelien daraufhin untersucht, ob sie ein zuverlässiges Bild von Jesus enthalten, und herausgefunden, dass dieses Bild im Wesentlichen das der „glaubenden Gemeinde“ ist. Denn die meisten der in den Evangelien berichteten Worte und Taten Jesu gehen auf Christen zurück, die nachträglich dem von ihnen angebeteten „Herrn“ Sprüche in den Mund gelegt und Taten zugeschrieben haben.

 

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die Erforschung der Briefe des Neuen Testaments. Ebenso wie Christen viele Jesusworte und -taten erfanden, kannten sie keine Skrupel, Schriftstücke unter dem Namen von Aposteln zu fabrizieren und deren Echtheit durch literarische Manipulationen vorzutäuschen.

 

Auch in diesen Dokumenten mit unwahrer Verfasserangabe spiegelt sich der christliche Glaube einer späteren Zeit wider.

Die Texte, die nur vorgeben, von Jesus oder den Aposteln zu stammen, sind Fälschungen, d.h. Unwahrheiten bzw. Lügen. Denn Fälschung oder Lüge liegen dort vor, wo einer Person unzutreffende Worte oder Taten mit einer bestimmten Absicht zugeschrieben werden, und dort, wo man historische Abläufe absichtlich falsch darstellt. „Unwahrheit“ oder „Lüge“ ist demnach die Nichtübereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird, „Wahrheit“ dementsprechend „die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird.“

 

Der Vortrag wird sich den Lügen der Bibel widmen.

 

1. Ich beginne mit der kritischen Darstellung einer Lüge, die sich in der Geschichte des christlichen Abendlandes verhängnisvoll ausgewirkt hat, der von „Jesus dem Judenfeind“ im Johannesevangelium.

 

2. Ich belege anschließend, dass zahlreiche Details der drei anderen Evangelien des Neuen Testaments unwahr sind.

 

3. Ich widme mich sodann schwerpunktmäßig den Lügen eines dieser Evangelisten, Lukas, der sich in seinem Doppelwerk, bestehend aus Evangelium und Apostelgeschichte, sogar als Historiker präsentiert.

 

Abschließend ziehe ich eine kurze Bilanz.

 

 

1. Jesus der Judenfeind

 

Vorab ist die literarische Schichtung der vier Evangelien und ihr Verhältnis zueinander zu erörtern; die Verfasser sind ja keine Augenzeugen, sondern tradieren und verarbeiten verschiedene griechische Texte, die sie als Überlieferung vorfanden.

 

Das Markusevangelium, das die altkirchliche Tradition fälschlich Markus, einem Mitarbeiter des Petrus, zugeschrieben hat, findet sich im Kanon des Neuen Testaments an zweiter Stelle, ist aber das älteste der kanonischen Evangelien. Drei Stücke sind der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. zugeordnet: die Parabel von den bösen Winzern, die Ankündigung des Gräuels der Verwüstung und die Notiz über das Zerreißen des Tempelvorhangs. Daraus, dass der Autor jüdische Sitten erklärt und aramäische Vokabeln übersetzt, ergibt sich, dass er für Christen aus dem heidnischen Bereich (Heidenchristen) schreibt. Er verarbeitet dabei sowohl mündliche als auch schriftliche Quellen (Wundererzählungen, Gleichnisse, Passionsgeschichte u.a.) und legt einen besonderen Akzent auf die „Lehre“ Jesu. Zu Beginn fasst er den Inhalt der Predigt Jesu zusammen:

Nähe der Königsherrschaft Gottes, Umkehrforderung und Aufruf zum Glauben. Person und Wirken Jesu versteht Markus von Kreuz und Auferstehung her.

 

Das Matthäusevangelium, das erste, obschon nicht älteste der vier kanonischen Evangelien, verarbeitet zwei Quellen: zum einen das Markusevangelium, zum anderen die sog. Logienquelle (Q), eine Sammlung von Sprüchen und Reden Jesu, die auch Lukas zur Verfügung stand. Ferner bedient sich Matthäus etlicher – schriftlicher oder mündlicher – Sonderüberlieferungen, die keine Parallelen bei Markus bzw. Lukas haben. Das Matthäusevangelium entstand zwischen 80 und 90 n. Chr., vermutlich in Syrien.

 

Matthäus zufolge war Jesu Sendung auf Israel beschränkt. Nachdem Israel den Gottessohn jedoch verworfen hat, geht das Heil auf die aus Juden- und Heidenchristen bestehende Kirche über. Der auferstandene Jesus sendet seine Jünger zur Mission unter alle Völker. Der erste Evangelist richtet sich an Christen jüdischer Herkunft. Von ihnen ist eine Gerechtigkeit gefordert, die besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Die altkirchliche Überlieferung führt das erste Evangelium irrtümlich auf den Jesusjünger Matthäus zurück, von dessen Berufung Kap. 9,9 erzählt wird.

 

Das Lukasevangelium – fälschlich dem Arzt und Reisebegleiter des Paulus, Lukas, zugeschrieben – entstand wohl um die Jahrhundertwende. Ihm liegt der Aufriss einer Heilgeschichte mit drei Epochen zugrunde: Die Mitte der Zeit, d.h. die Zeit des vom Geist gezeugten Gottessohnes Jesus, folgt auf die Zeit der Verheißungen Gottes in Israel und geht der Zeit der Kirche voran, die sich von der Himmelfahrt bis zur Wiederkunft Jesu auf den Wolken des Himmels erstreckt.

 

Letztere Epoche beschreibt Lukas in einem weiteren Werk, der Apostelgeschichte. In ihr verkündigen die vom Geist geleiteten Missionare die Heilsbotschaft in aller Welt. Lukas verfolgt dabei zugleich eine apologetische Linie und stellt das Christentum als politisch ungefährlich dar. Die Eltern Jesu gehorchen dem kaiserlichen Befehl, sich in Steuerlisten eintragen zu lassen, die römischen Oberen verhalten sich in der Apostelgeschichte recht positiv gegenüber der christlichen Religion, und der erste Heidenchrist ist ein römischer Hauptmann. Vorher hatte bereits ein anderer römischer Hauptmann nach dem Sterben Jesu unter dem Kreuz ausgerufen: „Dieser Mensch war wirklich ein Gerechter!“

 

Dadurch, dass der Verfasser das Evangelium als „den ersten Bericht“ mit der Apostelgeschichte verbunden hat, ist etwas Neues entstanden. Die Kirche des zweiten Jahrhunderts hat diesen Neuentwurf nicht übernommen, sondern Evangelium und Apostelgeschichte im Kanon des Neuen Testaments voneinander getrennt, um den qualitativen Unterschied zwischen beiden deutlich zu machen.

 

Das Johannesevangelium ist nicht aus einem Guss. Kap. 15–17 und Kap. 21 geben sich deutlich als Nachträge zu erkennen. Ferner haben die Bearbeiter den Text vermutlich auch an anderen Stellen erweitert. Die Frage, ob der Verfasser des Grundstocks des Johannesevangeliums – ich nenne ihn im Folgenden „Johannes“ – eines bzw. mehrere der ersten drei Evangelien kannte, ist umstritten. Falls nicht, spricht viel dafür, dass er seinem Werk eine schriftliche Quelle, die vor allem von Wundern Jesu erzählte, und einen eigenständigen Passionsbericht einverleibt hat. Auch wenn man annimmt, Johannes sei von den ersten drei Evangelien unabhängig, wird man sein Werk für jünger als zumindest das Markusevangelium halten. Die meisten Exegeten gehen davon aus, dass es zwischen 90 und 110 n. Chr. entstanden ist. Gemäß dem Zeugnis der Kirchenväter gehört es nach Kleinasien (Ephesus).

Laut Joh 21, 20–24 stammt das 4. Evangelium von einem unmittelbaren Nachfolger Jesu, dem „Jünger, den Jesus liebte“. Diese Behauptung trifft sicher nicht zu. In der Alten Kirche hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass der Jünger, den Jesus liebte, mit Johannes, dem Sohn des Zebedäus, identisch sei. Im Text des Evangeliums bleibt der Lieblingsjünger jedoch anonym.

Anders als der Jesus der ersten drei Evangelien redet der johanneische Jesus vor allem von sich selbst. Seine Worte kreisen dabei immer um ein und denselben Gedanken: dass er der von Gott in die Welt gesandte Sohn ist und dass das Heil des Menschen davon abhängt, ob er diesen Anspruch anerkennt oder nicht. Im positiven Fall sei er bereits jetzt im Besitz des ewigen Lebens.

 

Den Jesus des Johannesevangeliums hat es nur in der Phantasie gegeben. Seine totale Feindschaft gegenüber den ungläubigen Juden sucht ihresgleichen in den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments; sie wird geradezu zum Judenhass, der wie ein roter Faden das vierte Evangelium durchzieht. Die Schärfe der Polemik erklärt sich teilweise daraus, dass Teile der Gemeinde des Johannes aus einer jüdischen Synagoge ausgeschlossen worden sind. Im Gegenzug verteufelt Johannes nun die Juden – d.h., er legt Jesus deren Verteufelung in den Mund – und lässt auf diesem dunklen Hintergrund die Würde Jesu als des mit Gott Vater vereinten Sohnes, des Judenfeindes, umso heller erstrahlen. Offenbar kommt der richtige, exklusive Glaube ohne ein feindliches Gegenüber nicht aus und findet es in den Juden, von denen die Rettung einst gekommen ist. (Die Mitglieder der Gemeinde des Johannes waren ja durchweg ehemalige Juden.)

 

Antijüdische Feindschaft von derselben Art findet sich in der Offenbarung des Johannes, wo Jesus in zwei von ihm diktierten Briefen die Synagoge der Juden als Synagoge des Satans verunglimpft. Kinder des Teufels heißen aber auch die „Ketzer“ in den Johannesbriefen, ja Betrüger und Antichristen, weil sie eine andere Lehre als Johannes vertraten.

 

 

2. Zahlreiche Details der drei anderen Evangelien des Neuen Testaments sind unwahr

 

Historisch zuverlässiger scheinen auf den ersten Blick die Jesusdarstellungen der ersten drei Evangelien zu sein. In ihnen verkündigt er die Nähe der Königsherrschaft Gottes, erzählt Gleichnisse, legt das Gesetz aus und betätigt sich als Exorzist – alles Dinge, die sich gar nicht oder nur am Rande im Johannesevangelium finden. Indes hat die Forschung gezeigt, dass die meisten Jesusworte auch in den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments auf spätere Interpreten der Person Jesu zurück gehen, auf christliche Propheten, Schriftgelehrte und – nicht zu vergessen – auf die Evangelisten des Neuen Testaments selbst. Hier ein Überblick:

 

Erstens: Jesusworte wurden im Rahmen der Auseinandersetzungen innerhalb der frühchristlichen Gemeinde erfunden. Man borgte sich die Autorität Jesu, um konkurrierende Mitchristen zum Schweigen zu bringen. Ein Beispiel ist das unechte Jesuswort Lk 16,17: „Es ist leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein einziges Häkchen vom Gesetz wegfällt.“ Das Wort entstammt einer Gemeindesituation, in der ein Kampf zwischen liberalen und konservativen Christen entbrannt war. Die liberalen Christen sind wahrscheinlich Mitglieder von Gemeinden, denen auch der Apostel Paulus zuzuordnen ist. Gesetzestreue Christen beschuldigten ihn des Abfalls von der Thora. Sie verbreiteten über ihn das Gerücht, er lehre alle Juden in der Diaspora, ihre Söhne nicht mehr zu beschneiden. Diese Christen gehörten der Gemeinde aus Jerusalem an, die unter der Führung des Jakobus, eines Bruders Jesu, zunehmend eine restaurative Haltung zum Gesetz einnahm. In diesen Kreisen dürfte Jesus das oben zitierte Wort Lk 16,17 zugeschrieben worden sein, das die Unvergänglichkeit des Gesetzes behauptet. Um die eigene Position im Kampf gegen andere Christen zu verteidigen, legte man Jesus diesen Spruch einfach in den Mund.

 

Zweitens: Auch im Kampf gegen ungläubige Juden fälschte man Jesusworte. So schrieb der erste Evangelist Jesus folgende Sätze zu, Mt 23, 34–38: Siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und einige von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und einige von ihnen werdet ihr geißeln in euren Synagogen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zu Stadt, damit über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf der Erde ... Amen, ich sage euch: Dies alles wird über dieses Generation kommen. Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und die steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter die Flügel; und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus soll euch wüst gelassen werden.

 

Die christlichen Propheten, Weisen und Schriftgelehrten in Vers 34 zielen auf die Gegenwart des Matthäus. Diese Personengruppen, sagt „Jesus“, werden das Schicksal der Tötung, Kreuzigung und Geißelung erleiden, und zwar durch die von ihm der Heuchelei bezichtigten Pharisäer und jüdischen Schriftgelehrten. Aber die Bestrafung für diese Untaten kommt prompt: Matthäus lässt Jesus nämlich ein Gericht über ganz Israel voraussagen.

Die anschließend Jesus von Matthäus in den Mund gelegte Klage über Jerusalem setzt dessen Verwüstung im Jüdischen Krieg voraus, der erst 40 Jahre nach Jesu Tod stattfand, und die Zerstörung der Stadt wird hier nicht in Aussicht gestellt, sondern gilt als bereits geschehen: Die Stadt soll wüst (= in Trümmern) liegen bleiben.

 

Drittens: Jesusworte wurden fingiert, um die besondere Würde des Gottessohnes auszudrücken.

 

So entstammen zwei Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll, der erbaulichen Lektüre der alttestamentlichen Psalmen. Der bekannte Verzweiflungsruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ in Mk 15, 34 ist ein Zitat aus Ps 22, 2. Und die versöhnliche Anrede „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ in Lk 23, 46 entspricht wörtlich Ps 31, 6.

 

Viertens: Die Auffassung der neutestamentlichen Verfasser, Jesus selbst habe sein Leiden und seine Auferstehung vorhergesagt, ist widerlegt. Es handelt sich bei den diesbezüglichen Voraussagen um nachträgliche Rückdatierungen aus der Sicht des Glaubens. Die ersten Christen halten Jesus für einen Hellseher. Er hat nicht nur sein Sterben und Auferstehen vorausgesehen, sondern auch die Tempelzerstörung, den Verrat durch Judas, den Abfall seiner Jünger, die dreimalige Verleugnung des Petrus.

 

Fünftens: Die Auferstehung Jesu fand so, wie sie in den neutestamentlichen Evangelien beschrieben bzw. vorausgesetzt wird, mit Sicherheit nicht statt. Die diesbezüglichen Texte vom leeren Grab stammen erst aus dem zweiten Stadium des Auferstehungsglaubens, als es darum ging, die Auferstehung Jesu von den Toten dingfest zu machen.

Im Markusevangelium dient der Hinweis eines Jünglings darauf, dass Jesus nicht „hier“ sei, als Argument für Jesu körperliche Auferstehung.

Der Evangelist Matthäus legt den Bericht des Markus zugrunde und betont ausdrücklich, dass das Grab infolge der Auferstehung Jesu leer geworden ist. Damit bekämpft er Gerüchte feindlicher Juden, die behaupteten, die Jünger hätten Jesu Leib gestohlen und eine Auferstehung Jesu nur vorgetäuscht.

Der Evangelist Lukas, der den Bericht des Markus verwendet, untermauert die körperliche Auferstehung durch einen „Schriftbeweis“. In Psalm 16 soll David alias Jesus prophezeit haben, Gott werde den Gottessohn nicht der Verwesung anheim fallen lassen. Also steigerte Lukas die Bedeutsamkeit Jesu dadurch, dass er diesen Psalm in Geschichte übersetzte und Jesus unverweslich werden ließ. Das Grab musste leer gewesen sein.

 

Sechstens: Sämtliche Weissagungen aus dem Alten Testament, die traditionell auf Jesus bezogen werden, haben mit diesem nichts zu tun. So sind sämtliche Voraussagen, die alljährlich im Weihnachts- und Karfreitagsgottesdienst erklingen, erst nachträglich mit Jesus in Verbindung gebracht worden. Weder hatte der Prophet Jesaja im achten vorchristlichen Jahrhundert Jesus im Sinn, als er dem König Ahas die Geburt eines Sohnes voraussagte, noch sind die alttestamentlichen Gottesknechtslieder Weissagungen über den gekreuzigten Gottessohn. Beispielsweise beziehen sich die Sätze – „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre“ – auf jemand anderen als Jesus, vielleicht sogar auf das Schicksal des Volkes Israel ein halbes Jahrtausend vorher.

 

 

3. Die Lügen des Lukas, der sich sogar als Historiker versteht

 

Zwecks Vertiefung der bisherigen Ergebnisse behandle ich im folgenden Teil das Gesamtwerk eines Evangelisten. Bestehend aus Lukasevangelium und Apostelgeschichte verdient es schon wegen seines Umfangs – ein Drittel des Neuen Testaments – erhöhte Aufmerksamkeit. Sein Autor erhebt den Anspruch, eine Geschichte des frühen Christentums zu verfassen.

 

Der Eingangssatz der Apostelgeschichte bezieht sich zurück auf das Vorwort zum Evangelium. Hier streicht Lukas die historiographische Seite seiner Arbeit heraus und betont deren Zuverlässigkeit, welche die Versuche vieler früherer Autoren überbietet.... Lukas beschreibt die Ausbreitung des frühen Christentums als Heilsgeschichte und fasst sie als „Lauf“ oder „Weg“ auf. ... Die Apostelgeschichte versteht christliche Existenz überhaupt als "Weg". Als der lukanische Paulus in der Rede von Milet auf seine missionarische Aktivität zurückblickt, spricht er von der Vollendung seines „Laufs“.

 

Lukas hat das „Apostelkonzil“, ein Treffen in Jerusalem zwischen den Vertretern der dortigen Kirche und Christen aus Antiochien, in der Mitte der Apostelgeschichte platziert. Es soll Konflikte zwischen Juden- und Heidenchristen bereinigen und bildet die Voraussetzung für Paulus' eigentliche Mission. Sie beginnt erst jetzt und führt ihn bis nach Rom. Paulus’ Lebenswerk ist so mit der heiligen Vergangenheit der Jerusalemer Urgemeinde verbunden und zugleich durch sie legitimiert. Jedoch war Paulus, nach seinen Briefen zu urteilen, bereits länger als ein Jahrzehnt vor dem „Apostelkonzil“ als unabhängiger Apostel tätig.

 

Sobald Lukas die theologische Bedeutung eines Ereignisses erfasst hat, erschließt er daraus die Chronologie, also die Zeitfolge, die er theologisch für zwingend erachtet. Deswegen kann er sich solche Freiheiten im Umgang mit der Chronologie des Paulus erlauben und ihren Beginn viel zu spät ansetzen.

 

Zahlreiche theologisch bedingte Veränderungen des Markusevangeliums, das ihm als Quelle gedient hat, kommen hinzu. Beispielsweise berichtet Lukas von der Verhaftung Johannes des Täufers, bevor Jesus auftrat. Daher erfährt der Leser nicht mehr wie noch im Markusevangelium, dass Johannes Jesus getauft hat. Lukas verschweigt dies offenbar, um Jesus von Johannes abzusetzen.

 

Römische Soldaten spielen im lukanischen Doppelwerk eine wichtige Rolle. Zwar gab es unter ihnen bis ca. 175 n .Chr. keine Christen. Doch schlossen sich seit dem Ende des 2. Jahrhunderts immer mehr Militärs der Kirche an, so dass die Frage nach einer Antwort verlangte, ob der Soldatenstand mit dem neuen Glauben vereinbar sei. Also wendet sich Johannes der Täufer in einer von Lukas erfundenen Passage an Zöllner und Soldaten, zwei Säulen der römischen Besatzungsmacht. Auf ihre Frage, wie sie sich zu verhalten hätten, antwortet Johannes alias Lukas, sie sollten ihrem Beruf pflichtgemäß nachgehen. Und damit noch nicht genug, Lukas macht später sogar – wie wir sahen – einen römischen Hauptmann zum ersten Christen aus der römisch-hellenistischen Welt. Sein positives Bild des römischen Militärs spiegelt sich auch darin wider, dass er in der Leidensgeschichte seines Evangeliums römische Soldaten in günstigem Licht zeichnet. Ein Vergleich mit der Passionsdarstellung des Markus macht deutlich: Lukas entlastet die römischen Soldaten und belastet die Juden.

Ihm zufolge exekutieren die Juden – nicht die Römer – Jesus. Dies ergibt sich daraus, dass Lukas die Szene der Verspottung Jesu durch römische Soldaten auslässt. Entsprechend übergibt Pilatus Jesus dem Willen der Juden, die ihn abführen und kreuzigen. Mit anderen Worten: Diejenigen, die Jesu Kreuzigung verlangen, verurteilen und töten ihn auch. Ähnlich in einer Ostergeschichte:

Auf dem Weg nach Emmaus treffen zwei Jünger den „auferstandenen“ Jesu, ohne ihn zu erkennen, und erklären ihm, die Hohenpriester und Oberen der Juden hätten Jesus zur Todesstrafe ausgeliefert und gekreuzigt. In anderen Partien seines Werkes biegt Lukas die in seinen Quellen berichteten gewaltsamen Aktionen des römischen Militärs einfach um; geradezu positiv zeichnet er die Soldaten im Bericht von der Festnahme des Paulus in Jerusalem und bei den sich anschließenden Verhandlungen. Sie schützen Paulus in einer lebensbedrohenden Lage vor den Juden. Das Ende der Apostelgeschichte geht über die bisherige günstige Darstellung des römischen Militärs noch hinaus. Obwohl Lukas weiß, dass die römische Staatsmacht Paulus hingerichtet hat, lässt er diese Tatsache aus und schreibt in der Apostelgeschichte im letzten Satz, dass Paulus „die Königsherrschaft Gottes predigte und über das, was den Herrn Jesus Christus (betrifft), mit allem Freimut lehrte – ungehindert“. Lukas will durch diese Schönfärberei erreichen, dass die römische Führung den christlichen Gemeinden zur Zeit des Lukas die volle Freiheit zur Verkündigung gewährt.

 

Lukas schreibt eine „Erfolgsgeschichte“ der Kirche. Dabei bedient er sich sorgfältig ausgewählter Figuren. Es gibt gute und schlechte Personen: Die guten sind die zwölf Apostel, die Jünger und einzelne Märtyrer – die schlechten die Irrlehrer, und zwar die „grausamen Wölfe“, die nach dem Tod des Paulus in die Gemeinden eindringen werden, und natürlich die ungläubigen Juden. Keine Frage: Solch einliniges Bild lässt sich gut weitergeben und prägt sich schnell ein. Es übt einen großen Einfluss aus. Allerdings kommt dabei die historische Wahrheit zu kurz.

 

Im Rückblick ist illusionslos zu sagen: Lukas hat im Dienste der Heilsgeschichte an zahlreichen Stellen Fiktion und Faktum vertauscht, Historie aus Theologie erst erschlossen und vom frühen Christentum ein dogmatisch geschöntes Bild gemalt, das Teil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden ist. Die historische Bibelkritik bleibt ein heilsames Korrektiv, um die lukanischen Lügen zu entmachten.

 

 

Bilanz

 

Die historische Kritik hat die Bibel entzaubert und ist zur Totengräberin des Glaubens geworden. Neutestamentliche Forschungen ergeben: Für den Glauben bleibt kein geschichtliches Fundament zurück, auf das er nach eigenem Bekunden angewiesen ist – und das er sich doch nur selbst ausgedacht hat.

Frühchristliche Fromme haben massenhaft und mit gutem Gewissen Jesussprüche erlogen, die später ihren Weg ins Neue Testament nahmen. Die gröbste Lüge ist die von Jesus dem Judenfeind.

 

Die hemmungslose Erfindung von Worten Jesu, diente gemeindlichen Zielen: unter anderem dem Kampf mit ungläubigen Juden und Dissidenten aus den eigenen Reihen.

 

Das Neue Testament kann demnach für niemanden, der seine fünf Sinne beisammen hat, noch Heilige Schrift sein. Aufklärung lässt sich eben nicht an die Ketten des Glaubens legen. Sie stürzt wie ein brausender Strom heran, gegen den alle Glaubensschleusen und -dämme machtlos sind.